Donnerstag, 3. Juni 2010

Die Nachwehen

Die Wahlen sind vorbei – rein numerisch haben wir 4.000 Wahlsieger und mehr als 6.000 Wahlverlierer im ganzen Land. Die Medien sind sich einig: Eine Niederlage für die regierende Große Nationalpartei (GNP) und ein Beweis für die wiedererwachte Stärke des linken Lagers unter Führung der Demokratischen Partei (DP). Und tatsächlich, an diesen beiden zusammenhängenden Einschätzungen lässt sich nichts deuteln. Doch lohnt sich ein Blick hinter die angeblich so deutlichen Ergebnisse, die schon jetzt von vielen Zeitungen beschworenen Auswirkungen auf die Politik. Tut man dies, und zwar mit den Wahlergebnissen als Daten für längerfristige Entwicklungen und Tendenzen und nicht als absolute Ergebnisse wie beim Fußball, dann ergibt sich ein sehr sehr differenziertes Bild über das ganze Land hinweg, das bedeutend interessantere Schlussfolgerungen zulässt.

Meine Grundthese ist, dass dies eine Momentaufnahme ist, sich aber an den grundlegenden Koordinaten im koreanischen Parteiensystem und der Machtstruktur für die nächsten Wahlen nichts geändert hat. Die Feinheiten jedoch haben sich sehr wohl verändert und zwar auf beiden Seiten – und nicht so eindeutig positiv für die Linken, wie es vielleicht aussehen mag.

Die Ergebnisse im Überblick

Ich ordne im Folgenden die Ergebnisse von gut für Hannara nach schlecht für Hannara – dies deckt sich nicht mit den Ergebnissen, wie sie nach den Zahlen aussehen. Und ich ordne vor allem nach Aussichten für die wichtigen Wahlen in 2 Jahren.

Jeju - Die größte positive Überraschung für das konservative Lager – nicht die GNP - ist aus meiner Sicht Jeju, wo der Kandidat, dem von der GNP die Nominierung entzogen wurde, ein ehemaliger Samsung-Manager und stockkonservativ, fast gegen den progressiven Kandidaten gewonnen hätte. Man darf nicht vergessen, dass Jeju eine tendenziell eher progressive Provinz ist, in der stark konservative Positionen keine Chance haben. Vielleicht hat sich hier etwas entwickelt, obwohl die GNP hier weiterhin recht schwach ist, mit gerade einmal 37% der Stimmen.

Hauptstadtregion - Die GNP konnte zwei wichtige Provinzen in der Hauptstadtregion knapp halten; hier wohnt die Hälfte aller Koreaner. Trotz Regierungspolitik konnte man sich hier auf der höchsten Ebene, d.h. dem Provinzgouverneur von Gyeonggi sowie dem Bürgermeister in Seoul behaupten. Ebenso auf der dritten Ebene, d.h. als stärkste Kraft bei der Parteienwahl, in der man sieht, dass dies keinesfalls ein DP-Sieg war, sondern ein Sieg eines wie auch immer gearteten linken/progressiven/regierungsfeindlichen Lagers, das durch die Opposition gegen die Regierungsprojekte (Vier Flüsse, Sejong-Stadt etc.) zusammengehalten wurde. Dass die DP hierbei die Führung übernommen hat, ist wichtig, aber in einem direkten Vergleich mit der GNP hat sie noch immer Probleme. Dafür haben linke Kandidaten fast alle Rathäuser in den Bezirken, die Bezirksparlamente und die Stadtversammlung gewonnen. Das tut weh, weil die Budgets so nur mit Trickserei an der Opposition vorbeigebracht werden können.
Zu Incheon muss man nicht viel sagen. Bürgermeister An Sang-su hat viele wichtige Projekte nach Incheon geholt, die Wirtschaft gestärkt und viel angestoßen, sich aber im Wahlkampf auf Amtsbonus und Bilanz verlassen und ist dafür bitter bestraft worden. Der Sieg von Song von der DP ist verdient; er ist unermüdlich noch auf die kleinste Insel gefahren, um sich Unterstützung zu sichern. Das war auch sehr nötig, denn Incheon ist eine sehr untypische Provinz mit einem großen städtischen Kern und unzähligen Dörfern und kleinen vorgelagerten Inselchen. Hier eine Mehrheit zu schmieden ist sehr schwierig, dafür Chapeau!

Chungcheong - Der Sieg fuer die Linken in den Chungcheong-Provinzen ist mehreren Faktoren geschuldet. Zum einen ist das konservative Lager hier nicht geeint. Es ist das gleiche Problem, wegen dem konservative Kandidaten bei den letzten Wahlen mit 35-40% der Stimmen locker gegen das zersplitterte linke Lager siegen konnten. In Chungcheong hatte man es mit der konservativen GNP, der noch konservativeren und regional hier verwurzelten LFP und einigen Pro-Park-Konservativen zu tun. Insgesamt kommt das konservative Lager in Chungcheong je nach Provinz und Kreis auf 60-85%. Spannend wäre zu sehen, inwiefern hier auch taktisches Wählen bzw. das Unterlassen desselben zu den DP-Siegen geführt hat. Auch hat die „unterlassene Hilfeleistung“ Park Geun-hyes in den Chungcheong-Provinzen der Hannara großen Schaden zugefügt. Park ist sehr beliebt in den Provinzen und hat eine „Pro-Chungcheong“-Haltung eingenommen. Hätte sie hier für Unterstützung geworben, hätte die GNP durchaus gewonnen, sie aber persönlich weiter an Popularität verloren. Klingt zunächst nach Widerspruch, ist es aber nicht, denn die Wählerschaft der Konservativen ist sehr komplex, in Chungcheon allemal. Aber Park hat sich wie gesagt wieder einmal gegen die GNP und für ihre Präsidentschafts-Aussichten entschieden; wohin das führen soll ist übrigens eine der am wenigsten diskutierten, für die politische Landschaft in Korea aber eine der bedeutendsten Fragen überhaupt.

Gyeongnam & Gangwon - Wirkliche Schläge ins Gesicht sind meiner Meinung nach insbesondere diese beiden Wahlergebnisse. Gangwon hat nie zum Stammgebiet der Konservativen gehört, aber in fast allen Wahlen der Vergangenheit konservativ gestimmt. Auch bei den Zweitstimmen liegt die GNP mehr als 9% vorne. Hier macht sich ein weiteres Bild deutlich - die GNP hat in einigen Gebieten zugelegt, in anderen sehr viel verloren. In den Grenzregionen ist die Nordkorea-Frage wichtiger gewesen, dadurch die GNP hier sowohl in Gyeonggi als auch in Gangwon stärker. Und an der Ostküste gibt es teils stärkere Gebiete als in der eigentlichen Stammregion: Der stärkste Sieger aller Kreisräte und Bürgermeister ist der beliebte Kandidat der GNP in Gangneung mit fast 80%. Auf Platz 2 der konservative Konkurrent von der Pro-Park-Partei. Linke unter ferner liefen. Gangwon entwickelt sich in zwei Richtungen, warum genau das so ist, weiss ich nicht zu sagen, aber der ohnehin wirtschaftlich schwächere Teil tendiert eher links, die durch Tourismus stark gewordenen östlichen Regionen werden stärker für die GNP, so meine erste grobe Einschätzung.

Wo jetzt alle drauf eingehen, Gyeongnam, das war für mich keine große Überraschung, ich habe es in der Prognose sogar richtig vorausgesagt. Gyeongnam wird immer als Stammland der Konservativen bezeichnet, das stimmt aber nicht so ganz. Es ist das Stammland eines Teils der Konservativen, der derzeit sehr schlecht repräsentiert ist in Regierung und Partei. Zudem vollzieht sich in Gyeongnam seit einiger Zeit ein merklicher demographischer und politischer Wandel, konzentriert auf die industriellen Zentren an der Südküste, wo genährt durch die starken Chaebol-Gewerkschaften eine arbeiterfreundliche Politik immer mehr Zuspruch findet und zudem eine leicht progressive städtische Mittelschicht entstanden ist, die es früher nicht so stark gab. Zudem liegt natürlich Rohs Heimat hier und dadurch gibt es hier ein weiteres Epizentrum. Und nirgendwo sieht man die Zersplitterung des linken Lagers so schön wie hier bei den Zweitstimmen: Im konservativen Lager GNP bei 50%, Pro-Park bei 6%, LFP bei 2%, im linken Lager die DP bei 18% (!), die DLP bei 15%, Pro-Roh bei 7% und die NPP bei 4%. Wer hier also aus der Wahl eines progressiven, aber unabhängig angetetenen Provinzgouverneurs eine Riesenrevolution ziehen möchte, der sollte sich noch einmal die Ergebnisse genauer anschauen – längerfristig gibt es aber durchaus einen Trend zu mehr linken Stimmen.

Bildungsintendant Seoul – Ein klassisches Problem dieser Wahlen kann man bei den Wahlen zum Bildungsintendanten (Gyoyukgam – ist so ein unübersetzbares Wort) in Seoul besichtigen. Wir hatten einen Haufen Kandidaten, davon alleine 5, die sich gegenseitig in Konservativität überboten haben und zwei progressive, von denen einer ziemlich radikal war. Favoriten waren Lee Won-hui (konservativ) und Kwak No-hyeon (progressiv), wobei Kwak im Endeffekt mit etwa 1% Vorsprung gewonnen hat. Was die Konservativen durch Einigkeit ganz einfach verhindern hätten können. Nimmt man die progressiven Kandidaten zusammen, kommt man auf 38,6%. Nimmt man nur die beiden ideologisch nächsten aneinander liegenden konservativen Kandidaten, also Lee Won-hui und Kim Yeong-suk, kommt man bereits auf 45,3%. Nimmt man dann noch die gemäßigt konservativen Kandidaten hinzu käme ein geeinigter Kandidat wie bei den Linken auf über 60%. Aber dazu dachten alle konservativen Kandidaten die Wahl wäre zu klar und die Linken würden sich eh nicht einig werden. Pech gehabt, Arroganz wird immer bestraft.

Umfragen & Prognosen

Apropos Arroganz. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass meine Prognosen in den Werten falsch lagen. Da ich sie fairerweise eine Woche vor den Wahlen abgegeben habe und nicht meine Kenntnisse der nicht veröffentlichten letzten Umfragen einbezogen habe, in denen die linken Kandidaten von Tag zu Tag aufgeholt haben, ist das aber auch kein großes Wunder. Läge ich bei meinen Prognosen richtig, würde ich nicht hier auf diesem Blog schreiben, sondern für das Präsidialamt. Und zwar das amerikanische, denn das würde am besten dafür bezahlen.

Trotzdem lag ich ziemlich gut, was auch nicht verschwiegen werden soll: Ich habe den richtigen Trend für Chungbuk vorhergesagt und den richtigen Sieger in 15 von 16 Provinzen.

Ich zitiere mich mal selbst zu Gyeongnam: „Waere eine faustdicke Ueberraschung auf allen Kanaelen, wenn die Opposition hier gewinnen wuerde, mich aber wuerde es nicht so ueberraschen.“

Auch die Hauptstadtregion habe ich mit 2:1 und den richtigen Provinzen für GNP und DP richtig vorhergesagt. Bei den Zahlen für Seoul habe ich mich aber ordentlich verhauen. Dass es so knapp wird, hätte ich niemals erwartet. Auch in Gangwon habe ich mich zu sehr auf die Struktur verlassen und zu wenig auf den Swing.

Fazit

Ich lese aus den Wahlen folgende Ergebnisse:

1. Das linke Lager kann als Opposition geeint gewinnen. Dies ist eine wichtige Aussage, wenn man aber die Wahlen 2012 gewinnen möchte, muss mehr kommen als eine Negativ-Stimmung gegen die Regierung. Insbesondere wenn man nach einer möglichen Rückeroberung der Macht einigermaßen geeint bleiben möchte, sollte man sich schon jetzt einmal Gedanken machen. Schon am Wahlabend übte die DP massiv Druck auf die gerade erst gegründete BBP (Pro-Roh) aus, wieder „heim zu kommen“ und das Lager offiziell zu einen. Hier wird es in Zukunft noch viele Diskussionen geben. Die BBP ihrerseits hat trotz der positiven Stimmung anlässlich des ersten Todestages von Roh landesweit enttäuscht. Sie würde derzeit landesweit trotz einiger tragfähiger Kandidaten wie Yu Si-min sogar noch hinter den Pro-Park-Kräften zurückbleiben. Und ich rede hier von Zweitstimmen, wo man nicht taktisch wählen musste.
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2. Die Regierung hat jetzt ein echtes Problem. Der Wegfall der unterstützenden Kräfte in den Provinzen sind weniger das Problem als das Zeugnis, das die Bürger den Hauptprojekten der Regierung ausgestellt haben, insbesondere in Chungcheong, das doppelt getroffen ist. Die Regierung kann sich auf ihren Kompetenzvorsprung bei Sicherheit und Wirtschaft nicht verlassen, solange die wirtschaftliche Erholung nicht bei der breiten Bevölkerung angekommen ist. Hier wird es im zweiten Halbjahr eine deutliche Belebung geben; mal schauen wie sich das auswirkt.
Innerparteilich ist der größte Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur, Parteivorsitzender Jeong Mong-jun jetzt erstmal so gut wie aus dem Rennen, zumindest mittelfristig. Park Geun-hye hat sich wie immer ambivalent verhalten. Allgemein wird ihr Verhalten dahingehend interpretiert, dass sie zeigen wollte, wie die GNP ohne sie aussähe. Kindisches Verhalten, aber gezeigt hat sie ihre Macht erst einmal. Ob es belohnt wird, ist eine andere Frage. Oh Se-hoon und Kim Mun-su würde ich jetzt beide auf jeden Fall als Kandidaten aus der GNP für die Präsidentschaft zählen; sich in so einem Sturm zu behaupten, das könnte eine ganz wichtige Voraussetzung für die Wahlen 2012 werden und vor allem psychologisch Kraft geben. So groß ist das Personaltableau im Übrigen auch sowieso nicht, weshalb man sich an diese Hoffnungsträger klammern sollte.
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3. Vernichtend war die Niederlage der GNP wie gesagt nicht; kurzfristig schon, aber wer vernichtende Niederlagen, die bis zur Auflösung eines ganzes Lagers führen sehen will, der sollte sich die linken Niederlagen bei den vergangenen Wahlen anschauen. Das waren Wahlen, wo die Linken insgesamt nur noch auf 30% kamen – das hier ist für eine Regierungspartei eine deutliche Abstrafung, eine herbe Niederlage, aber nichts, das wirklich existenzbedrohend ist. Wenn auch knapp; man hat zwei erfolgreiche und beliebte Provinzgouverneure in Seoul und Gyeonggi durchgebracht – die Wiederwahl Ohs in Seoul ist die erste überhaupt in der Stadt. Ein mehr als getrübter Sieg, aber ein Sieg nichtsdestotrotz. Und denjenigen, die Oh jetzt als Bürgermeister von Gangnam veralbern, kann ich nur sagen, dass das nun einmal Mathematik ist: Wenn Han im Norden nur mit Ergebnissen von 48-46 gewinnt, in ihren Hochburgen mit 55-45 und Oh dafür vier der bevölkerungsreichsten Bezirke mit jeweils fast 60-40, dann kommt eben am Ende so etwas raus. Gangnam ist ja nicht eine Apartmentsiedlung reicher Bonzen, die alle 10 Stimmen haben – Gangnam, Seocho und Songpa haben gemeinsam irgendwas um die 4 Millionen Einwohner, deren Wählervotum zählt genauso wie das der anderen. Hätte man Gangnam schneller ausgezählt, wäre es zu der Diskussion auch gar nicht gekommen, weil es dann gar nicht so aufgefallen wäre. Auch wenn das nach der unglaublichen Aufholjagd, die Han Myeong-suk noch gezeigt hat, müßig erscheinen mag: Versemmelt hat sie es. Klare Niederlagen in den TV-Debatten, in den Persönlichkeitswerten hinter Oh. Sie hat deutlich weniger Stimmen als ihre Partei, konnte den Rückenwind der Stimmung nicht ganz für sich nutzen. Während die GNP nur 4 Rathäuser halten konnte, hat Oh immerhin in 8 Bezirken im Süden, Westen und Norden der Stadt gewonnen. Das zeigt, dass er deutlich beliebter ist als seine Partei.
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4. Das Regierungslager, wenn auch nicht vernichtet, ist angeschlagen und ich erwarte, dass die innerparteilichen Machtkämpfe, die teils schon keine innerparteilichen mehr sind, nun wieder aufbrechen. Ein weiterer genauer Blick zeigt übrigens, dass die vielen Unabhängigen, die gewählt wurden in Wirklichkeit zu 3/4 bis 4/5 Konservative sind. Die meisten davon Pro-Park. Das wird ganz spannend, wie sich dies entwickelt. Und genau hier entscheidet sich das Wichtige für die nächsten Wahlen: Die GNP müsste an sich zwei große Lehren aus diesen Wahlen ziehen: 1. Konfrontation mit der Linken geht nicht, wenn man nicht dabei seine eigenen Wähler mobilisiert und dies ist ganz eng mit 2. verbunden, nämlich Einheit des konservativen Lagers. Ohne ein einheitliches Gefühl der Gegnerschaft zu linken Positionen, ohne eine gemeinsame Linie und gemeinsamen Wahlkampf kann eine konservative Partei nicht überleben. Was die GNP machen müsste; Einigkeit zeigen, die kleinlichen persönlichen Streitereien einstellen, einen Kompromiss für Sejong finden und sich um eine politisch-geistige Einheit mit der LFP bemühen. Ich ahne aber, dass es eher zum Gegenteil kommen wird.
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5. Und somit ist eigentlich alles beim Alten: Der Wahlausgang legt ein stabiles Zwei-Parteien-System nahe, in Wirklichkeit geht es aber nach Altersgruppen, Regionen und Persönlichkeiten quer durcheinander, wild herum und immer verliert die Regierungspartei. Wie gesagt, nichts was einen Kenner der koreanischen Politik wirklich aufregen müsste. Wichtig ist, was hinten rauskommt und das ist 2012 und was auf dem Weg dahin passiert. Der psychologische Vorteil ist bei den Linken; was aber noch lange nicht heißt, dass sie ihn nutzen.
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